Europa, wie wir es kannten, ist tot
Der Kolonial-Historiker Jürgen Zimmerer hat Katja Maurer von medico-international ein bemerkenswertes Interview gegeben. Er stellt Klimawandel und Kolonialgeschichte in einen Zusammenhang und bewertet die Debatte um die Einzigartigkeit des Holocaust. Das Interview fand vor dem Ukraine-Krieg statt.
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Kurze Auszüge aus dem Interview:
Genozid-Debatte
Das Berliner Stadtschloss überschreibt die nationalsozialistische Geschichte und ihre Folgen, ist es doch eng mit dem Kaiserreich und damit auch der deutschen (kolonialen) Gewaltgeschichte verknüpft. Zwar leugnet niemand außer Rechtsradikalen den Holocaust. Aber dieses neue (alte) Narrativ der Berliner Republik löst die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft aus der Geschichte heraus. Das apodiktische Paradigma der Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen fördert dieses Denken. Dabei muss die Frage eigentlich lauten, worin einerseits das Singuläre der Verbrechen liegt und wo andererseits die Verbindungslinien mit anderen gewalttätigen Ereignissen sind. Sonst kappt man die Verbindungslinien zwischen dem Dritten Reich und der deutschen Geschichte insgesamt.
Es gibt eine Traditionslinie in der Genozidforschung, die im Sinne der westlichen Erzählung davon ausgeht, dass westliche demokratische Gesellschaften keine Genozide verüben. Danach ereignen sich solche Gewaltverbrechen nur in außerwestlichen Staaten, womit ja auch die Interventionen der letzten Jahrzehnte begründet wurden. In diesem Bild reitet der Westen als Kavallerie ein und rettet. Daraus entstanden ist eine Zweiteilung: Die Menschen außerhalb des Westens sind die Täter und wir die Retter. In der Klimakrise wird dieses Bild vollends ad absurdum geführt. Denn der Westen trägt mit seinem Verbrauch an Ressourcen maßgeblich zur Verschärfung der Klimakrise bei. SUV-Fahrer, und nicht nur diese, sind also mitverantwortlich für die Gewalt in anderen Regionen.
Für diesen Satz habe ich heftige Reaktion erhalten. Aber das ändert nichts an der Tatsache. Unser individuelles Verhalten hat globale Konsequenzen.
Klimakrise und Kolonialismus
Ich fürchte, dass wir mit Blick auf die globale Krise immer wieder im Eurozentrismus landen. Das Gute ist, dass wir nicht länger der Nabel der Welt sind. Klimakrise und Kolonialismus hängen zusammen, aber auch Dekarbonisierung und Dekolonisierung.
Wir wissen um die Klimakrise und die Notwendigkeit der radikalen Änderung im Globalen Norden. Aber die Bürgerinnen und Bürger im Globalen Norden glauben das nicht, weil über 600 Jahre für Europäer:innen das Leben in einer kolonialen Globalisierung ein Leben über die Verhältnisse war. Das hat zu einer mentalen Disposition geführt, die davon ausgeht, dass es doch immer gut gegangen ist. Deshalb sind die Europäerinnen und Europäer, ja der Globale Norden insgesamt, völlig unfähig, auf diese Krise zu reagieren. Ausnahme sind etwa die jungen Leute von „Fridays for Future“.
Am Teilen, an globaler sozialer Gerechtigkeit führt kein Weg vorbei. Wenn man sich nicht auf ein Niveau des Ressourcenverbrauchs einigt, das jedem und jeder das Gleiche zugesteht, kann das in Gewalt bis zum Genozid enden. Statt zu teilen, schottet man sich ab, werden weltweit Mauern gebaut. Die Folgen des Klimawandels bedeuten damit das Ende Europas, wie wir es kennen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir lassen Menschen aus den unbewohnbar gewordenen Regionen hierher. Damit würde sich die demografische Zusammensetzung ändern, ich kann damit leben.
Oder wir errichten ein Grenzregime, das die Werte, die wir angeblich haben, ad absurdum führt. Wir können die Sache drehen und wenden, wie wir wollen: Europa, wie wir es kannten, selbst wenn es nur ein Zerrbild war, ist tot.
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