Die Kulturgeschichte des Kaffees als Getränk wird in vielen Publikationen als die Geschichte der Kaffeehäuser erzählt. Der Adel hatte das Geld, um sich den anfangs teuren Kaffee auch leisten zu können. Es sind die Räume des aufkommenden Bürgertums, der Reichen, die auch in den Dichter-Salons verkehrten.
Daneben gibt es aber eine eher unterbelichtete proletarische Geschichte. Ulla Heise widmet in ihrer ersten Ausgabe von „Kaffee und Kaffeehaus“ gar ein ganzes Kapitel dem „Proletarischen Kaffeehaus“ (Seiten 207-226). Ausserdem spielte der Kaffee in den aufkommenden Fabriken eine Rolle. Hier also eine kompakte Zusammenstellung einiger Fundstellen:
Besser als Friedhöfe neben den Fabriken
Der Kaffee-Experte Thomas Leeb aus München beschrieb die Segnungen des Kaffees für die Fabrikanten folgendermaßen:
„Als in England … durch die Dampfmaschine … die industrielle Revolution begann, schlug die Stunde des Kaffees für die ,kleinen Leute‘. Die veränderten Arbeitsbedingungen in den Fabriken erforderten den ständigen Einsatz des schwarzen Muntermachers. Die monotone, anstrengende Arbeit an den Maschinen war gefährlich und verlangte eine hohe, gleichbleibende Konzentration.
Die Zahl der Verletzungen und Todesfälle durch Übermüdung nahm ein derart bedrohliches Maß an, dass man in den Fabriken den teuren Kaffee verabreichte, um Unfällen vorzubeugen – dies rechnete sich besser, als Friedhöfe neben den Fabriken anzulegen und Witwen- und Waisenrenten zu bezahlen.“ (Thomas Leeb: Das magische Elixier, S. 35)
Die Bilderstrecke verdeutlicht dies u.a. am Beispiel der Firma Krupp in Essen mit ihrer 1868 gegründeten „Kruppschen Konsumanstalt“ – Klick große Ansicht:
Kaffee als „Schmiermittel“ der Industrialisierung
Der Hygieniker Pettenkofer schrieb 1873, er möchte den Kaffee mit
„der Anwendung der richtigen Schmiere bei Bewegungsmaschinen vergleichen, welche zwar nicht die Dampfkraft ersetzen und entbehrlich machen kann, aber dieser zu einer viel leichteren und regelmäßigeren Wirksamkeit verhilft, und außerdem der Abnutzung der Maschine ganz wesentlich vorbeugt.“
Auch die Arbeiter in Paris
Auch die Arbeiter, präzisiert L.S. Mercier in seinem Tableau de Paris (1782), „haben dieses Lebensmittel für wirtschaftlicher, nahrhafter und schmackhafter als alle anderen befunden. Als Folge davon trinken sie es in enormen Mengen und behaupten, daß es sie oft bis zum Abend auf den Beinen halte … Die Landarbeiter von Middlesex und Surrey beginnen, das Bier durch Kaffee zu ersetzen.“ (Massimo Montanari: Der Hunger und der Überfluß – Kulturgeschichte der Ernährung in Europa, München 1993 – Seite 150)
Kaffee und industrielle Revolution
Mark Pendergrast beschreibt diese Entwicklung in seinem Standardwerk „Wie eine Bohne die Welt veränderte“:
Die steigende Beliebtheit des Kaffees wurde noch verstärkt durch die industrielle Revolution, die im 18. Jahrhundert in Großbritannien begann und sich im frühen 19. Jahrhundert in anderen Teilen Europas und Nordamerikas ausbreitete.
Die Entwicklung des Fabriksystems verwandelte das alltägliche Leben, die Einstellungen und bisherigen Essgewohnheiten. Die meisten Menschen hatten zuvor zu Hause oder in ländlichen Handwerksbetrieben gearbeitet. Sie unterteilten ihre Zeit nicht so streng in Arbeit und Freizeit und waren weitgehend ihre eigenen Herren. In der Regel gab es fünf Mahlzeiten am Tag, angefangen mit einer Suppe zum Frühstück.
Mit der Entstehung von Textilfabriken und Eisenhüttenwerken wanderten immer mehr Arbeitskräfte in die Städte ab, wo die entstehende Arbeiterklasse in erbärmlichen Verhältnissen lebte. Mit dem Eintritt der Frauen und Kinder in die Belegschaft reduzierte sich die Zeit, die für die Haushaltsführung und die Vorbereitung der Mahlzeiten blieb. Diejenigen, die versuchten, sich den Lebensunterhalt mit Heimarbeit zu verdienen, erhielten immer weniger Lohn.
Die europäischen Spitzenmacher lebten daher im frühen 19. Jahrhundert fast ausschließlich von Kaffee und Brot. Da Kaffee anregend und warm war, hielt man ihn auch für nahrhaft. Ein Historiker schreibt: „Da sie ununterbrochen an ihren Webstühlen saßen, um die wenigen Pfennige zu verdienen, die sie für das nackte Überleben brauchten, hatten [die Arbeiter] keine Zeit, um noch lange ein Mittag- oder Abendessen vorzubereiten. Darum wurde schwacher Kaffee als anregendes Mittel für den schwachen Magen getrunken, der so wenigstens für eine kurze Zeit den nagenden Hunger stillte.“ Das Getränk der Aristokratie war zur notwendigen Droge für die Massen geworden, und der morgendliche Kaffee ersetzte die Biersuppe zum Frühstück. (Seiten 34-35, Mark Pendergrast: Wie eine Bohne die Welt veränderte, Edition Temmen, Bremen 1998)
… letztes Reizmittel für die geschwächten Mägen
Kurz nach 1800 … trinkt ihn ,der ärmlichste, elendste Arbeiter täglich‘ … Der wohlhabende Bürger trinkt ihn am Morgen und am Nachmittag, bei ärmeren Schichten steht er als Universalmahlzeit von früh bis abends auf dem Herd. In Nordfriesland ernährten sich die Klöpplerinnen um 1830 ,fast bloß mit Kaffee und Brot‘, als letztes Reizmittel für die geschwächten Mägen wurde Kaffee getrunken, der wenigstens für kurze Zeit das Hungergefühl betäubte. (Seite 141, Ulla Heise: Kaffee und Kaffeehaus – Die Geschichte des Kaffees, Insel, 2002)
Der Kaffee „hilft den Leuten hungern“
So beschreibt es Heinrich Eduard Jacob in seinem Klassiker „Kaffee – Geschichte eines weltwirtschaftlichen Stoffes“ 1932:
Das 19. Jahrhundert ist das Zeitalter unerhörter Leistung. Das Zeitalter der Industrie (das seit der Kontinentalsperre, von ihr befruchtet, fortbesteht) verlangt vom Menschen theoretisch den vierundzwanzigstündigen Werktag. Ihn konnte nur der Kaffee verbürgen – und darum wurde er Massenkonsum. Im 19. Jahrhundert trank – welch ein Unterschied gegen früher! – auch der Arbeiter Kaffee. Kaffee, in welcher Bereitung auch immer, wurde eine Voraussetzung für Fabriken und Werkstätten.
Mehr noch! Im 19. Jahrhundert begann der Kaffee ein Gesicht zu zeigen, das er bisher nicht enthüllt hatte. Er wirft sich, wenn auch natürlich nur scheinbar, zum „Löser der Sozialfrage“ auf. Er wagt, als „Bekämpfer des Hungers“ zu gelten. In dem Streit, den seit langer Zeit die Kaffeeimporteure Europas mit den zu hohen Einfuhrzöllen der jeweiligen Staaten kämpfen, hört man immer wieder das Argument: „Der Kaffee ist ein Volksnahrungsmittel und muß deshalb niedrig besteuert werden.“ Im ärztlichen Sinne ist das nicht richtig: Der Kaffee hat keinen Nährwert, und ein Mensch, der sich nur von Kaffee ernährte, müßte unweigerlich verhungern. Aber im soziologischen Sinne ist jene Behauptung vollkommen richtig! Der Kaffee ist ein Sättigungsvortäuscher. Der Kaffee „hilft den Leuten hungern“.
[…] Kaffee ist also kein Volksnahrungsmittel – aber ein für den Arbeitsprozeß des Volkes unentbehrliches, unschätzbares Energetikum.
Cafés und Kaffeekränzchen
Noch in Arbeit: Von 1650 bis 1720 wurden in allen großen Städten Europas Kaffeehäuser eröffnet.
Bilderstrecke Wiener Kaffeehäuser
Alle 61 Fotos: Alex Kunkel / Wien, 2008 – Klick Gallerie – Nutze Pfeiltasten